Extraordinär

Außerhalb des Gewöhnlichen. Wenn das auf ein Objektiv passt, dann auf das neue Meyer Optik Primoplan 1.9/58 II.

Es ist ein 58er, kein 50er. Es kommt weder mit Lichtstärke 1.8 noch mit 2.0, sondern mit 1.9 daher. Es hat keinen Autofokus. Es trägt den Namen Meyer Optik, stammt aber nicht aus Görlitz. Es hat den Blendenring vorne. Es hat eine beinahe kreisrunde Blendenöffnung. Es wirkt relativ lang für ein 50er. Und es macht Bilder, wie kaum ein anderes Objektiv.

Und es trägt den Namen „Primoplan“, ein Name, der unter Kennern manueller Objektive einen ganz besonderen Klang hat.

Ich mag Meyer-Optik-Objektive sehr (die meisten jedenfalls) und habe eine ganze Reihe davon, mehrere klassische aus Görlitz, drei wiederbelebte aus Koblenz (wobei zwei von denen ursprünglich aus China bzw. Russland stammen und nur eines aus Deutschland. Aber das ist inzwischen anders.)

Und hier im Blog habe ich bereits einige Male vom Meyer Primoplan 1.9/75 berichtet – einem auf einer klassischen Rechnung basierender Neuauflage des „vintage“ Primoplans, das vor einigen Jahren seine Wiedergeburt feiern durfte. Dieses 75er ist meines Erachtens eines der besten Portraitobjektive überhaupt. (Und nicht nur ich denke so.) Es ist inzwischen auch in einer wiederum neueren Version erhältlich, doch da dürfte sich nicht allzuviel geändert haben.

Die Firma OPC hat nämlich den gescheiterten ersten Versuch von netSE, Meyer Optik Görlitz auferstehen zu lassen, mit einem anderen Konzept wiederbelebt. Dieser neue Ansatz erscheint mir sehr solide. Ich bin überaus gespannt, wie die ganz neuen Versionen der Objektive vom Markt aufgenommen werden. Ich hoffe, sehr, sehr gut, denn ich bin über jeden neuen Objektiv-Hersteller froh, bringt uns Nutzern dies doch immer wieder Innovationen und Ideen, auf die wir sonst verzichten müssten. Ich jedenfalls habe – wie man aus meinen Artikeln ersehen kann – keinerlei Berührungsängste mit TTArtisan, 7artsians, Viltrox usw. und daher natürlich auch nicht mit einer zweiten Reinkarnation von Meyer Optic Görlitz.

Hier soll es nun um die kleinere, jüngere Schwester des 75ers gehen. Nun ja, „kleiner“ nicht wirklich, „kürzer“ eher – im Sinne der Brennweite, nicht der Fassungslänge. Diese beiden Primoplane, das 75er und das 58er, sind – zusammen mit den notwendigen Adaptern – annähernd gleich groß. Überraschend? Nicht unbedingt. Ein 75er muss nicht unbedingt länger sein als ein 58er, vor allem dann nicht, wenn die Frontlinse des 58ers recht tief im Gehäuse liegt, ganz ähnlich wie bei einem klassischen Makro-Objektiv. Das hilft übrigens sehr gut gegen Streulichtanfälligkeit und ermöglicht es, die Streulichtblende auf einen kurzen Ring zu verkürzen. Extraordinär.

Die beiden Schwestern nebeneinander: 75 und 58
Dieses Foto zeigt die tief liegende Frontlinse des 58ers.

Hält man nur das 75er in der Hand, ist man erstaunt, wie kompakt es ist. Hält man nur das 58er, denkt man schon, dass es doch recht groß ist. Die Version, die ich hier habe, hat ein Leica-M-Bajonett und da liegt auch schon der Grund für diesen Eindruck: das Primoplan ist KEIN Messsucherobjektiv, sondern eine Konstruktion für eine Spiegelreflexkamera. Das bedeutet, das in der M-Version die Fassung nach hinten verlängert werden muss, um das deutlich kürzere Auflagemaß einer Leica M auszugleichen. Wer jetzt gut mitgedacht hat, schlussfolgert korrekt, dass das 58er, trotz M-Anschluss nicht mit dem Messsucher der Leica gekoppelt ist. Man kann also nur über LiveView fokussieren. Das ist ein Nachteil für alle Fotografen, die mit einer M ohne dieses Funktion fotografieren – aber auch nur für diese. Adaptiert an eine spiegellose Systemkamera spielt das keine Rolle. Meine M240 hat LiveView, so dass ich auch ohne Probleme mit dem 58er daran fotografieren kann. Eben ein extraordinäres Objektiv.

Der Vergleich mit einem Leica Summicron-M 2/50, einem Messsucherobjektiv, zeigt den Größenunterschied deutlich.

Was ist denn nun an einem Primoplan 58 so besonders? Im Digicamclub wurde die klassische Version einmal recht ausführlich vorgestellt.

Ich selbst hatte das klassische Primoplan 58 vor einigen Jahren auch, in der Zeit zu der ich mit Canon EOS DSLRs fotografiert habe. Da es aber mit seinem M42-Anschluss an der EOS 5D nicht uneingeschränkt nutzbar war, habe ich es wieder verkauft. Ja, heute ärgere ich mich sehr darüber.

Dieses Foto meines Vaters, der leider vor einigen Jahren von uns gegangen ist, habe ich – vor etwa 12 Jahren – mit dem klassischen Primoplan 58 aufgenommen. Es zeigt im HG die wunderbare, sehr charakteristische Unschärfedarstellung des klassischen Objektivs. Ob die neue Version da mitkommt? Das werden wir sehen.

Das Primoplan bildet objektivgeschichtlich einen eigenen Untertyp (5 Linsen in 4 Gruppen) der vom Triplet abgeleiteten Konstruktionen und steht im Stammbaum der Objektiv damit parallel neben den Sonnaren oder den Hektor-Designs. Soll heißen, mit genau diesem Aufbau findet man fast nur das Primoplan. (Es wurde ein sehr ähnliches Objektiv einmal als „Evar“ von der Firma Futura gebaut, aber das spielt geschichtlich kaum eine Rolle.) Auch hier ist das Primoplan also extraordinär.

Auch die Blendenapertur macht ein Primoplan zu etwas Besonderem:

Ich höre Objektivliebhaber jetzt schon mit der Zunge schnalzen, nicht wahr?

Man muss aber dazu sagen, dass sich der Charakter des 75ers von dem des 58ers unterscheidet. Das 75er ist insgesamt, wie soll ich sagen, harmloser, aber auch harmonischer. Das 58er zeigt sich – je nach gewählter Blende – von ganz unterschiedlichen Seiten. Bei Offenblende ist es ganz sicher nicht jedermanns Geschmack, was sich leicht abgeblendet aber schnell ändern kann.

Mehr dazu folgt in einem späteren Artikel, in dem ich auch Beispielfotos zeigen werde.

Abschließend und aus Gründen der Transparenz weise ich darauf hin, dass mir Meyer Optik Görlitz (aka OPC Optical Precision Components Europe) dankenswerterweise dieses Primoplan 58 kostenfrei zu Testzwecken zur Verfügung gestellt hat. Dennoch werde ich mich selbstverständlich um eine neutrale Berichterstattung bemühen.